Berlin, Juni / Juli 2015
Solidaritätserklärung des Unabhängigen Forums kritische Soziale Arbeit, des Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit Berlin und des DBSH Berlin mit der Weiße-Fahnen-Aktion der Kolleg*innen aus den Berliner RSDs:
Wir sind Fachleute der Sozialen Arbeit, die Verantwortung für Kinder, Jugendliche, und Menschen in schwierigen Lebenslagen tragen.
Wir möchten unsere Wut und Verärgerung über den Fortgang der Ökonomisierung in der Kinder- und Jugendhilfe laut und deutlich äußern. Auf dem Rücken von Kindern, Jugendlichen, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, jungen Volljährigen, Eltern und den Mitarbeiter*innen der Berliner Jugendämter, wird weiterhin nicht nach fachlicher Notwendigkeit, sondern nach vorgeschriebener Finanzlage entschieden. Es werden negative Folgen und irreparable Schäden billigend in Kauf genommen.
Als Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen in der Kinder- und Jugendhilfe erleben wir täglich die Schicksale von Menschen, die hinter den „offiziellen Statistiken“ stehen; wir sehen die Folgen von Vernachlässigungen, Gewalt, Traumatisierungen, Obdachlosigkeit und Flucht, und wir erleben die seelischen Probleme dieser Kinder und Jugendlichen. Wir haben mit Arbeitslosigkeit, Sucht, psychischen Erkrankungen, finanzieller Not und anderen Problemen ihrer Eltern zu tun. Die Zahl derer, denen es in der anhaltenden ökonomischen Krise schlecht geht, nimmt ständig zu. Die Belastungen und Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen erleben wir tagtäglich; wir können dies sehen, hören, fühlen.
Kinder, Jugendliche und Eltern haben ebenso einen Rechtsanspruch auf Hilfe und Unterstützung, wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Kolleg*innen in den Jugendämtern und im Berliner Notdienst Kinderschutz haben Hilfen und Unterstützung bei Bedarf zu gewährleisten. Um den Bedarf mit den Familien kooperativ zu besprechen und Hilfe anzubieten sowie den Kinderschutz sicherzustellen, braucht es eine angemessene Ausstattung in den RSDs und im Kinderschutz! Also Zeit, Geld und Personal.
Wir wissen wie schwierig diese Arbeit ist! Und wir wissen wie ungünstig die Verläufe sind, wenn nicht oder nicht rechtzeitig geholfen wird: die Situation für die betreffenden Kinder und Jugendlichen verschlechtert sich! Wenn in den RSDs und in der Jugendhilfe so gearbeitet werden könnte, wie es fachlich angemessen und nötig wäre, käme es auch nicht zu so vielen sogenannten ‚Kinderschutzfällen‘. Der erste Schritt dorthin ist eine auskömmliche Personalausstattung – und zwar unverzüglich.
Die massive Schädigung von Kindern, Jugendlichen, minderjährigen Flüchtlingen und jungen Volljährigen wird von einer Politik, die allein auf Ökonomisierung, Sparkurs, Konkurrenz, Abschottung und eine unverantwortliche Arbeitsverdichtung von Mitarbeiter*innen setzt, in Kauf genommen.
Dies ist unverantwortlich! Ein Kernsatz des Kinderschutzes lautet: „Die staatliche Gemeinschaft wacht über das Wohl der Kinder.“ Dieser Auftrag – also das Wächteramt, den die Jugendämter zu gewähren haben – kann unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr erfüllt werden!
Das menschliche Leid und die gesellschaftlichen Kosten für Schäden durch diese Art der staatlichen Vernachlässigung sind enorm: bei den betroffenen jungen Menschen, und bei den Kolleginnen und Kollegen, die mit dem Wissen arbeiten, dass hier ganz anders geholfen werden könnte und müsste. Grade was die Hilfen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betrifft, die seit Wochen zu Hunderten in Deutschland ankommen, muss eine personelle Unterstützung in den Jugendämtern und beim Landesjugendamt jetzt erfolgen!
Seit Jahren fehlen Unterbringungsplätze für Jugendliche in Berlin. Die Situation verschärft sich immer weiter!
„Unsere Kinder sind unsere Zukunft“ – so hören wir es vollmundig von der Kanzlerin bis hin zum Regionalpolitiker; so lesen wir es alle 4 Jahre mit Riesenlettern auf Wahlplakaten!
Dieser Satz wird mit Füßen getreten:
– wenn Familien in Obdachlosen- und Asyleinrichtungen nach dem ASOG unter kindeswohlgefährdenden Verhältnissen leben müssen. Verhältnisse, die unter ‚normalen‘ Kriterien zur Inobhutnahme der Kinder führen würden.
– wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, per Inaugenscheinnahme durch Verwaltungskräfte einfach für volljährig erklärt und nach dem Erwachsenenrecht abgeschoben werden.
– wenn 15-jährige nach einem Leben voller Gewalterfahrungen keine Einrichtung mehr angeboten bekommen, weil sie zu „den Schwierigen“ zählen und im Jugendamt niemand mehr die Zeit hat, sich intensiv um eine Hilfebeziehung und gute Lösungen zu bemühen.
– wenn 20 Jährige – als Folge von Traumatisierung oft mit einem Entwicklungsstand von 13-14-jährigen, sich in einem Kreislauf von Prostitution, Drogen und Gewalt völlig verheddert haben, ihnen keine Jugendhilfe mehr gewährt wird, und sie dazu den hohen Anforderungen des Jobcenters nicht gerecht werden und bis auf null gekürzt, auf der Straße leben (müssen).
– wenn von bundesweit 3 Millionen Kindern mit suchtmittelabhängigen Eltern, nur ein Bruchteil tatsächlich Hilfe und Unterstützung erfährt.
– wenn jedes 5. Kind und noch mehr Jugendliche in Armut und am Existenzminimum leben und jährlich bei über 80.000 Haushalten der Strom abgestellt wird oder sie aus ihren Wohnungen zwangsgeräumt werden.
Wie soll ein*e Kolleg*in des RSD sich intensiv um all diese Angelegenheiten kümmern, bei viel zu hohen Fallzahlen (bis zu 120 Familien)!? Alle Fachleute des Kinderschutzes wissen: Das geht nicht! Und sie wissen: das Gegenteil von ‚gut‘ ist ‚gut gemeint‘ – falsche Kompromisse nutzen niemanden!
Wir unterstützen die Forderung der RSDs: Kinderschutz braucht Zeit und Geld. Gemeinsam setzen wir uns für eine Veränderung in der Kinder- und Jugendhilfe ein. Denn eine Veränderung ist dringend nötig?! Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im RSD und die Forderung nach einer angemessenen
Personalausstattung stellen den Anfang dafür dar. Wir erklären uns solidarisch mit den Kolleg*innen!
An die Adresse der Politiker*innen: Erzählt uns nicht, es sei kein Geld da! Milliarden können für nichtsnutzige Prestigeprojekte, Fehlplanungen von Bahnhöfen und Flughäfen, Überwachung, Aufrüstungen, Auslandseinsätze, menschenverachtende Technologien und sogenannte ‚Bankenrettungen‘ ausgegeben werden; aber an Kultur, Bildung, Gesundheit und Kinder- und Jugendhilfe muss gespart werden. Die Resultate dieser Politik haben nicht die Fachkräfte der Sozialen Arbeit, sondern die Politik zu verantworten!
Sparen am Sozialen? Nix da! Wir stellen uns quer!
Wir fordern….
… im Angesicht einer Politik, in der soziale Gerechtigkeit und die Teilhabe Aller am gesellschaftlichen Wohlstand nicht vorkommt, den sofortigen Stopp des Sozialabbaus!
… eine den fachlichen Anforderungen angemessene personelle Ausstattung und Fallzahlbegrenzungen, die eine qualifizierte sozialpädagogische Arbeit ermöglichen!
… eine langfristige und verlässliche Finanzierungssicherheit für die Erbringer der erforderlichen Angebote!
… die Abschaffung von Wettbewerbszwang und Konkurrenzideologie in der Sozialen Arbeit!
… Kontinuität und Abschaffung prekärer Arbeitsverhältnisse . Das heißt, hinreichend Zeit und die notwendigen Mittel, die es ermöglichen, eine fachlich gute und für die Betroffenen wirksame, bedarfsorientierte und damit hilfreiche Arbeit leisten zu können!